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Die Geschichte unserer Kirchengemeinde

Beim Anblick der Kirche Einblick in kirchliches Leben.

Betrachtungen anlässlich des 100-jährigen Bestehens der jetzigen Kirche in Leihgestern.

Von Pfarrer i. R. Robert Kraft aus Leihgestern.

Die Zahl 1907 habe ich von Kind an in großen Buchstaben an unserer Kirche gelesen. Doch ich habe von niemandem erfahren, was sie eigentlich bedeutete. Eigentlich hätte es die Jahreszahl 1908 sein müssen, denn wir feiern in diesem Jahr das 100. Jubiläum der Wiedereinweihung der „neuen" Kirche, nachdem im Jahr 1906 die „alte" Kirche bei einem Gewittersturm eingestürzt war. Dieses Geschehen war seltsamerweise kein Thema im Dorfgespräch. In meinem Geburtsjahrgang 1933 hätte man ein 25. Jahresgedächtnis begehen können. Davon ist nirgends etwas vermerkt. Selbst im Jahr 1958 kam niemand auf den Gedanken, ein Goldenes Jubiläum zu feiern. Erst im 75. Jahr ihres Bestehens wurde ihrer Geschichte gedacht. Pfarrer Heinrich Schäfer und Kirchenvorsteher Hans-Joachim Häuser schufen aus diesem Anlass eine Festschrift unter dem Titel „Leihgestern und seine Kirche." Irgendwie war bis dahin das „Thema" Kircheneinsturz und Kirchenneubau verdrängt worden. Mein Elternhaus steht der Kirche gegenüber, mein Vater war in der „alten" Kirche konfirmiert und in der „neuen" getraut worden. Er hat mir nie etwas davon erzählt. Auch dass unser Kirchenchor anlässlich der Einweihung der neuen Kirche gegründet wurde und deswegen jetzt auch sein 100. Jubiläum feiern kann, habe ich nie gehört. In der Sakristei der Kirche hingen (hängen?) jedoch Bilder, die mir dann die „Kirchen-Geschichte" anschaulich vor Augen führten. Ich konnte nachfragen und nachforschen, nur so bekam ich Antworten auf meine Fragen. Das Verdrängen kann ich mir nur so erklären, dass es den Leihgesternern peinlich war, dass ihre Kirche, die zuletzt in den Jahren 1692 bis 1698 renoviert und erweitert wurde, bei einem Gewittersturm eingestürzt war. Solch eine „Bruchbude" passte nicht in ihren historischen Stolz, durch die Ablösung aus der Pfarrei Großen-Linden eine eigene selbständige Kirchengemeinde geschaffen zu haben, für deren Unterhaltung sie mit eigenen Finanzmitteln aufkamen. Mehr noch. Aus den eigenen Reihen und mit eigenen Mitteln hatten sie auch einen Kirchturm gebaut, so hoch, dass man ihn aus der Umgebung, und vor allen Dingen von Großen-Linden aus, sehen konnte. Und jetzt ein solcher „Zusammenbruch." Natürlich freute man sich nun auch über die schöne „neue" Kirche, doch Stolz konnte offenbar aufgrund der „Vorgeschichte" nicht aufkommen. Das große Werk des Neubaues hat die Kirchengemeinde Herrn Pfarrer Karl Strack (1890 – 1914) zu verdanken. Anlässlich der Wiedererrichtung seines Grabsteines auf dem Friedhof hinter der Kirche konnte ich am 21. März 1999 in Anwesenheit eines Teils seiner Nachkommen in einem Dialektgottesdienst sein vielfältiges segensreiches Wirken ausführlich würdigen.

In unmittelbarer Nachbarschaft der jetzt neuen Kirche bin ich aufgewachsen. Ich habe sie täglich vor Augen gehabt und sie sonn- und werktags als Mittelpunkt dörflichen Lebens erfahren. Auch wenn ich später erst lernte, dass der Begriff „Kirche" vom Griechischen her (der Ursprache des Neuen Testaments) die Bedeutung hatte „Dem Herrn gehörig", so erfuhr ich schon ganz früh, dass das, was in ihr und um sie herum geschah, über das hinausging, was sonst üblich und gängig war. Darum habe ich mich in einen Dialektgottesdienst zum Historischen Markt des 1200. Jubiläumsjahres Leihgesterns im Jahr 2005 dazu bekannt, dass für mich hier in Leihgestern der Platz in und vor der Kirche ein „heiliger Ort" ist. Hier hörte und erlebte ich, was die Horizonte dieser Welt durchbricht und mein Leben in einem anderen Licht erscheinen lässt als es mir der Augenschein bietet. Was ich meine, finde ich in einer Betrachtung „Die Kirchenbank" von Hans Walhof:

„Ich heiße euch knien. Ich lasse euch sitzen. Ich lasse euch stehen. Ich spüre euch beten. Ich erlebe eure Tränen. Ich kenne eure Reue. Ich atme eure Einsamkeit. Ich tröste euer Leid. Ich singe eure Freude. Ich verstehe eure Müdigkeit. Ich hüte euren Schlaf. Ich vermittle Segen. Ich höre eure Lieder. Ich trage eure Träume. Ich segne eure Hoffnung. Ich verstecke eure Schuld. Ich spüre eure Lasten. Ich vergesse eure Zeitlichkeit. Ich vermittle euch die Sakramente. Ich trage Licht aus der Höhe herbei. Ich spiegele Gottes Wohltaten und seine einmaligen Zuwendungen in verdunkelte Tage eures Lebens. Mein Dank ist Warten, unendliches Warten, bis die Wunder Gottes durch mich geschehen."

So soll anlässlich des 100. Jubiläums unserer Kirche nicht nur das Gebäude gebührende Beachtung finden, sondern auch das kirchliche Leben, das sich in ihm und vor ihm vollzog. Mein Leben ist damit untrennbar verbunden – von Geburt an, ja schon vorher. In der Zeit des Pfarrers Karl Jäger (1924 - 1929) hatte sich mein Vater Georg Kraft um die ausgeschriebene Kirchendienerstelle beworben. Weil er ein Mitglied der SPD war, wurde er aus diesem Grund abgelehnt. In einem Gespräch mit Pfarrer Jäger meinte mein Vater, dann solle er in seinen Predigten doch auch seine Ausflüge in die deutsch-nationale Politik unterlassen und bei Jesus und der biblischen Verkündigung bleiben. Pfarrer Jäger wiederum empfahl ihm, mit seiner sozialistischen Gesinnung lieber vor der Kirchentür zu bleiben oder ganz aus der Kirche auszutreten. Meine Eltern Georg und Klara Kraft vollzogen diesen Schritt und wurden so im Dorf zu Außenseitern. Als ich dann in der Klinik in Gießen geboren wurde, war eine Taufe nicht möglich. Der dortige Klinikpfarrer Müller vollzog sie jedoch auf Wunsch meiner Eltern ohne Genehmigung durch das Leihgesterner Pfarramt. Inzwischen war Pfarrer Wilhelm Reusch (1930 – 1946) nach Leihgestern gekommen. Die Pfarrfrau Margarete Reusch war übrigens eine Schwester des Neuhof-Pächters Brückmann. Als ihm meine Taufe mitgeteilt wurde, holte er meine Eltern in die Kirche zurück. Wie anders wäre mein Leben ohne Taufe verlaufen, wie anders aber auch der Umgang der Kirche mit der Arbeiterschaft, wenn sie die Anliegen der alten Sozialdemokratie als weltliche Brüder der Bergpredigt Jesu gesehen hätte.

Mein Elternhaus steht nicht nur der Kirche gegenüber, sondern auch dem Pfarrhaus. So erlebte ich als Kind aus nächster Nähe, was in beiden geschah. Das Bild von

Pfarrer Wilhelm Reusch prägte sich mir natürlich durch seine Amtstracht ein, aber ich sah ihn auch, wie er fast täglich mit seinem Spazierstock zur „Huteburg" wanderte. Auf dem Feld begegnete er den Bauern und nahm Anteil an ihrer Arbeit, zunächst

passiv, später auch aktiv. In den Kriegstagen, als viele Frauen mit ihren Bauernhöfen allein standen, legte er persönlich Hand an - auf dem Feld, beim Heumachen und beim Fruchtschneiden. So sah ich ihn vor der Kirche nicht nur im Talar auf dem Weg zum Gottesdienst und hinter dem Leichenwagen in einem „Leichenzug" zum Friedhof, wie er damals üblich war, sondern auch „in Zivil" auf einem Bauernwagen, wobei er sogar die Zügel in der Hand hatte. Zum Ende des Krieges 1945 traf ihn ein hartes Schicksal: Sein Sohn Heinrich (knapp 30 Jahre alt) hatte sich von der Front entfernt und bis nach Gießen zu seiner Braut Hildegard Hepding durchgeschlagen. Abends gingen beide von dort in Richtung Leihgestern durch den Wald, wo sie in eine Schießerei von Amerikanern gerieten. Heinrich wurde an der Seite seiner Braut von einer Kugel tödlich getroffen. Tags darauf wurde er auf einem Bauernwagen tot nach Hause geholt. Man sagte nach dem Tod von Pfarrer Reusch am 19. März 1946 im Alter von 67 Jahren, er habe den Tod seines Sohnes, neben dem er bestattet wurde, nicht verwunden. Es war eine so große Beerdigung, wie sie Leihgestern nur selten erlebt haben dürfte. Die Pfarrer der Umgebung zogen in ihrer Amtstracht in einer großen Schar vor dem Leichenwagen her, dem unzählige Menschen folgten. Heinrichs Braut, jetzt Hildegard Bachmann geb. Hepding, mit der ich Kontakt gehalten hatte, ist erst am 23. Januar dieses Jahres 2008 gestorben. Die Verheißung, dass das Kreuz, das wir tragen, ein Abbild des Kreuzes Christi ist, das uns trägt, hilft Christen zur Erträglichkeit ihrer Lasten. Die Pfarrerstochter Gustel Hoischen geb. Reusch ist inzwischen auch verstorben. Der Pfarrerssohn Ehrhard (Jahrgang 1925), mit dem ich in Verbindung stehe, lebt in Essen in einem Seniorenstift. In dem schon bei Pfarrer Strack erwähnten Dialektgottesdienst am 21. März 1999 konnte ich in Anwesenheit der Groß-Familie von Pfarrer Wilhelm Reusch auch sein umfangreiches Wirken würdigen, zumal auch sein Grabstein, zugleich auch der Heinrichs, hinter unserer Kirche seinen Platz gefunden hat.

Zum kirchlichen Leben gehörte nicht nur das Pfarrhaus, sondern auch die „Kinderschule" (heute : Kindergarten) neben der Kirche, in der sich auch die Schwesternstation befand. Hier wurde deutlich, dass sich der Gottesdienst im Dienst am Nächsten fortsetzt – die Liturgie in der Diakonie, wie man es mit Fachausdrücken beschreibt. Die Diakonieschwestern waren dafür Sinnbild.

Ich erlebte als Kind beim Anblick unserer Kirche aber auch andere bewegende Momente. Am 9. November 1938 zog eine Schar von NS-Parteigrößen gefolgt von Schulklassen an ihr vorbei in die damalige Schillerstraße, früher Judengasse, heute sogar Kirchstraße (diese Namensgebung ist für mich peinlich!), um die Juden abzuholen. Dabei fiel auch das Wort: Wenn die Synagoge abgerissen ist, kommt später auch die Kirche dran!

Am 2. Dezember 1944 wurde unser Dorf bombardiert. 40 Scheunen und 1 Wohnhaus brannten lichterloh, auch die Scheune des Hauses Väth-Andermann neben der Kirche, die selbst dabei verschont blieb. Meine Nachbarin Christine Väth geb. Borger stand im Feuerschein vor der Kirche, ihre Enkeltochter Christa (heute verh. Schmidt) auf dem Arm, und betete laut den Gesangbuchvers( EG 361,12) von Paul Gerhardt: „Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not; stärk unsre Füß und Hände und lass bis in den Tod uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, so gehen unsre Wege gewiss zum Himmel ein. Was sonst in der Kirche aus altem Liedgut gesungen wurde, half jetzt zur Bewältigung der aktuellen Notlage.

Als sich im März 1945 die amerikanischen Truppen unserem Dorf näherten, wollte der damalige Kirchendiener Wilhelm Dern mit einigen Nachbarn als Zeichen der Ergebung eine weiße Fahne (ein Bettuch auf einer Holzstange) auf dem Kirchturm hissen. Bei diesem Vorhaben kam ein Auto deutscher Wehrmachtsangehöriger in das Dorf und wollte ihn erschießen. Da stellte sich Rektor Ludwig Lotz, bis dahin eine beachtliche NS-Parteigröße, vor ihn und rief: „Wenn hier jemand erschossen wird, dann bin ich es. Ich bin an allem mit schuld." Seine Bußgesinnung konnte nur mit Respekt betrachtet werden. Nach Kriegsende hatte er die Schulleitung aufgegeben und war als Waldarbeiter tätig. Sonntags war sein Platz im Gottesdienst auf der Orgelempore. Er hatte mich als Schüler in die NAPOLA („National-politische Anstalt") bringen wollen, in der der NS-Führungsnachwuchs ausgebildet wurde. Doch nach dem Fall von Stalingrad im Jahr 1943 meldete er mich auf dem Humanistischen Landgraf-Ludwig-Gymnasium in Gießen an, wo ich auch mein Abitur machte. Es war die Voraussetzung für mein Theologiestudium und für meinen beruflichen Werdegang als Pfarrer. So bekenne ich: ER fügt, dass es sich fügt.

Von 1946 bis 1975 hat dann Pfarrer Heinrich Schäfer unser Gemeindeleben geprägt. Er widmete sich vor allem der Jugendarbeit, weil er selbst noch verhältnismäßig jung war (geb. 2. 11. 1908) und wohl auch darum, weil die Pfarrfamilie selbst keine Kinder hatte. Er veranstaltete viele Jahre hindurch in St. Peter an der Nordsee Jugendfrei-zeiten und sonstige Jugendfahrten. Als ich anlässlich seiner Beerdigung am 23. September 2003, die er (wie bei seiner Frau Hedwig am 14. Dezember 1979) von mir erbeten hatte, in seinen Aufzeichnungen blätterte, wurde mir wieder deutlich, welch einen Aufschwung die Gemeinde inzwischen genommen hatte. Die Zahlen der Besucher von Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen mit einem vielfachen Angebot sind kaum noch vorstellbar.( Am Abschiedsgottesdienst von Pfarrer Schäfer am 3. November 1974 nahmen 745 Gemeindeglieder teil!) Die Kirche war sonntags einfach „voll". Es war seiner Zeit Tradition, dass aus jedem Haus mindestens ein Gottesdienstbesucher kam. An den 2. Feiertagen kamen so viele Leute (vor allem Frauen, weil es zum Essen „Gewärmtes" gab), dass in den Häusern um die Kirche noch alle verfügbaren Stühle geholt wurden. In der Kirche herrschte eine feste Sitzordnung für verheiratete Männer und Frauen (getrennt „natürlich"), für Witwer und Witwen, für Burschen und Mädchen, für Konfirmanden und Kinder. Die Abendmahlsfeiern wurden als sog. „Ständeabendmahle" (getrennt nach Gruppen der o. g. Sitzordnung) jeweils im Frühjahr und Herbst gehalten. Es nahmen alle Gemeindeglieder (in tief-schwarzer Kleidung) daran teil, wer ausnahmsweise einen Termin nicht wahrnehmen konnte, entschuldigte sich im Voraus persönlich beim Pfarrer und ließ sich einer anderen Gruppe zuteilen.

Durch die Zuweisung von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten waren auch viele Katholiken in das sonst rein evangelische Dorf Leihgestern gekommen. Da es keine andere Möglichkeit gab, hielten sie ihre Messfeiern in unserer Kirche. Die Neugier bei den Einheimischen war natürlich groß, so dass sich nicht wenige an den Fensterscheiben die Nase platt drückten, um zuzusehen, was der Priester - in „bunten Gewändern" von Messdienern umgeben und in Weihrauchwolken gehüllt - dort „zauberte", während die Gemeinde in den engen Bänken sogar kniete.

In diesem Zusammenhang bekam unsere Kirche auch einmal hohen Besuch: Bischof Stohr aus Mainz kam hierher zu seinen Katholiken. Um ein Gleichgewicht herzustellen, sei gesagt, dass auch der ev. Kirchenpräsident Martin Niemöller die hiesige Kirchengemeinde aufsuchte.

Viele Alltäglichkeiten und Selbstverständlichkeiten sollen nicht unerwähnt bleiben. In unserer Kirche wurde „gebündelt", was im Ablauf des Lebens eines jeden geschah. Auch wenn nach der Geburt eines Kindes die Taufe nicht in der Kirche, sondern im Geburtshaus stattfand, so wurde jedoch die Mutter am darauf folgenden Sonntag „ausgebetet." Bei ihrem ersten Kirchgang nach der Geburt wurde sie namentlich in das Fürbittengebet eingeschlossen. Vorher durfte sie das Haus nicht verlassen, noch nicht einmal aus dem Fenster gucken, d. h. „kein Fensterkreuz über sich haben." War ein Kind gleich nach der Geburt gestorben, wurde es abends beim „Nachtläuten" von der vorgesehenen Patin – allein, ohne sonstige Begleitung - in einem weißen Särglein auf den Friedhof gebracht und dort ohne Liturgie beerdigt. Auf uns Kinder, die wir angewiesen waren, dann hinter das Hoftor zu gehen, wirkte solche Szene geradezu gespenstisch. Sonntags zogen wir in Scharen in die Kirche zum Kindergottesdienst und hörten begeistert die biblischen Geschichten. Während der beiden (!) Konfirmandenjahre durften wir auch schon den „richtigen" Gottesdienst besuchen. Nach der Konfirmation (damals zu Ostern zur Schulentlassung und zugleich zum Berufsbeginn) kamen noch drei Jahre „Christenlehre" hinzu, die an festgesetzten Terminen nach dem Gottesdienst gemeinsam für die drei Jahrgänge vom Pfarrer mit Deutungen des Glaubens und Lebens in der Kirche gehalten wurde. Es fehlte kaum jemand. Das Elternhaus stand denn auch dahinter: „Geh nur hin, dort hörst du nichts Schlechtes!" Bei der Eheschließung war die Kirchliche Trauung selbstverständlich. Die Braut kam im Brautkleid, der Bräutigam in „Gehrock" und mit Zylinder. Weil sich das Braut-paar bei der Trauung die Hände reichen musste, fiel einem Konfirmanden die Aufgabe zu, während des Trauungsgottesdienstes den Zylinderhut des Bräutigams zu halten. Er wurde mit einem reichen „Trinkgeld" belohnt, das er nach der Trauung mit den drei Konfirmanden teilen musste, die geläutet hatten. Bei Todesfällen wurde der Be-erdigungsgottesdienst nach einem Leichenzug durch das Dorf am Grab gehalten. Im darauf folgenden Sonntag wurde, wie es heute noch üblich ist, der / die Verstorbene und seine / ihre Angehörigen ins Fürbittengebet eingeschlossen. Höhepunkt des Totengedenkens war jedoch der Totensonntag, der bei uns „Totenfest" hieß. Die Gräber wurden, einem Wettstreit gleich, so ausgiebig geschmückt, dass sie einem Vergleich mit anderen standhielten. Nach dem Morgengottesdienst in der Kirche versammelte man sich nochmals zur Nachmittagsandacht auf dem Friedhof. Es kamen Hunderte.

Nicht nur an den Wendepunkten des Lebens wirkte das Geschehen in der Kirche mit, sondern auch bei Festen und Höhepunkten des Jahres. Dass sie weithin vom Ablauf des Kirchenjahres bestimmt waren, ist weithin bis heute so geblieben, zumal auch Sitte und Brauchtum davon bestimmt sind. Dabei ist manches verloren gegangen, das früher z. B. zum Jahreswechsel üblich war. An Silvester in der Neujahrsnacht versammelten sich große Teile der Bevölkerung vor der Kirche und begrüßten das neue Jahr nicht nur mit Böllerschüssen, sondern auch mit Gesang. In der Kirche konnte man beim Orgelspiel des Organisten Wilhelm Großhaus stille Andacht halten.

Da ich am 1. November 1959 in Ewersbach im Dillkreis ordiniert wurde und nun selbst als Pfarrer dort und später in Nieder-Olm bei Mainz tätig war, konnte ich am Leihgesterner Gemeindeleben kaum noch teilnehmen. Deswegen kann ich auch nicht mehr auf das Wirken der Leihgesterner Pfarrer nach 1975 (Pensionierung Pfarrer Schäfer) eingehen. Wichtig ist wohl noch, dass ich am 29. Januar 1989 meine erste Dialektpredigt in unserer Kirche gehalten habe. Dass es nicht eher geschehen ist, lag an meiner im Jahr 1988 verstorbenen Schwester Gertrud. Sie meinte, sich im Dorf deswegen schämen zu müssen, dass ich mit dem dörflichen („bauerischen") Platt irgendwie das Wort Gottes in der Kirche entheiligte. Dass das Geschehen in der Kirche als vom Alltäglichen „abgehoben" erlebt wurde, habe ich ja selbst erfahren. Aber die Bilder des Neuen Testamentes sind weithin dem werktäglichen, bäuerlichen Leben entnommen. An oberster Stelle nenne ich hier das Bild vom Hirten und seiner Herde. Ich sah es als Kind und Jugendlicher täglich vor der Kirche, wenn der Schäfer und seine Schafe hier vorbeizogen. Und in der Kirche wurde es für unser Leben gedeutet, dass ER unser Hirte ist und wir zu seiner Herde gehören. Dieses eindrucks-volle Bild wurde zu meinem persönlichen Glaubensbekenntnis bis heute. Es ist in die Worte des Liedes von Luise von Hayn ( gestorben 1782 ) gefasst, das ich schon als Kind mit anderen in Leihgestern gesungen habe: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt. ... Sollt ich nun nicht fröhlich sein, ich beglücktes Schäfelein? Denn nach diesen schönen Tagen wird ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß, Amen, ja mein Glück ist groß."

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